Nach fast zweijähriger Vorbereitungszeit fand das erste „Gastspiel" des inzwischen wohl renommiertesten Independent- und Avantgarde-Festivals SKIF in der Kulturbrauerei zu Berlin statt.

Freitag, 4.7.

Der Regen setzte genau zu Beginn des Auftritts der St. Petersburger Tres Muchachos ein. Das hinderte die Band allerdings nicht, mit ihren sonnigen Sounds aus Latin, Salsa, Reggae und Calypso die bereits zu dieser konzertunüblich frühen Tageszeit zahlreichen erschienenen Zuschauer auf dem Hof der Kulturbrauerei zum Tanzen zu bringen. Nach diesen fröhlichen 45 Minuten läuteten die St. Petersburger Billy´s Band mit ihrer Hommage an Tom Waits die Clubatmosphäre ein und überzeugten mit Rhythm´n Blues. Die Berliner RotFront sorgten danach mit ihrer treibenden Mischung aus Ska, Elektronik und Rock für viel Bewegung und wurden dabei von Leonid Soybelman tatkräftig unterstützt. Gleichzeitig eröffnete die Akkordeon-Virtuosin Ewelina Petrowa den Abend im Palais. Ihre atemberaubende Musik-Stimm-Performance überzeugte nicht nur eingefleischte Liebhaber dieses Genres. Danach gab der Moskauer Songpoet Alexej „Chwost" Chwostenko einen Einblick in die sogenannnte „tiefe russische Seele". Gleichzeitig betrat Pushkin Boom Beat als Opener die großen Bühne im Kesselhaus. Mit ihrem individuellen Stil aus Elektronik, Ethnotrance und Videosequenzen schufen sie eine spannende Atmosphäre. Im Palais setzten in der Zwischenzeit Nado Podumat ganz eigene Akzente aus Jazz und Noise. Die in Berlin schon wohlbekannten Auktyon lösten Pushkin Boom Beat im Kesselhaus ab und begeisterten wieder ihr Publikum einmal mit jazzigem Artrock. Während im Palais die skurrile Performance der Band Simon Magus (ein Teil der Totalitarnaja Musikalnaja Sekta aus St. Petersburg) in Pappmasken und –kostümen Avantgardenoise feinster Sorte darboten, betrat die Legende John Cale mit seiner Band die Kesselhaus-Bühne. Vorher hatte die schwerbeschäftigte Security dafür gesorgt, daß im ausverkauften Saal niemand über eine Kamera verfügte, um den Meister damit zu fotografieren. Dann hätte er nämlich sofort die Bühne wieder verlassen und das wollte natürlich keiner. Er bot ein souveränes Konzert, ohne große Überraschungen zwar, doch immer wieder faszinierend. Zur selben Zeit konnte man im Palais ganz anderen Klängen lauschen, nämlich dem straighten Punk der Poslednije Tanky w Parishe. Ihnen folgte auf dem Fuße Degenerator mit melodiösem Latinrocksound. John Cale wurde derzeit von den Soundmagiern Ole Lukkoye abgelöst, die mit Licht und Ton das Publikum in Trance versetzten. Aus dieser wurde man dann vom holländischen Staalplaat Soundsystem mit einzigartigen Noiseavantgardeexperimenten wieder erweckt. Im Palais rundeten gleichzeitig Markscheider Kunst mit Reggae, Ska und Salsa mit Partylaune den ersten Festivaltag gebührend ab.

Mehr als 1.200 Besucher, Journalisten und Gäste flanierten bis in die frühen Morgenstunden auf dem Hof der Kulturbrauerei zwischen den einzelnen Bühnen hin und her und ließen sich von der Vielfalt und Originalität der gebotenen Konzerte und Performances begeistern.


Sa, 5.7.

Am zweiten Festivaltag dominierten die Genres „Jazz" und „Elektronik". Die Petersburger TMS eröffneten im Palais und zeigten sich ambitioniert, beide Genres gekonnt zu verbinden. Während im Kesselhaus die Gruppe Cloud Commission, holländische und russische Musiker und bildende Künstler, ihre sphärische audiovisuelle Performance der Antipode zeigten, betrat im Palais der Ausnahme-Musiker Wladimir Wolkow mit seinem Kontrabaß die Bühne. Wie groß dieses Instrument wirklich ist, mußte am Vortag der Fahrer der Limousine schmerzlich erfahren, der Wolkow vom Flughafen abholen sollte. Es paßte nicht ins wirklich nicht gerade kleine Auto. Wladimir Wolkow, der auch mit verschiedenen Formationen auftritt, schaffte es auch solo mit experimentellem Jazz zu überzeugen. Im Kesselhaus dagegen ging es elektronisch mit den Berlinern Sensor weiter, die mit großartig programmierten Rhythmen, wunderschönen Harmonien, skurrilen Soundapparaten und Videosequenzen das Publikum zum Tanzen brachten. Der Saxophonkünstler und Freejazzer Peter Brötzmann präsentierte sich derweil im Palais in beeindruckend expressiver Manier. Nach Sensor betraten die Berliner Tarwater die Bühne und schufen mit ihren Tracks, Samples und Soundcollagen einen Klangraum der besonderen Art. Im Palais baute gerade ein weitere alter Bekannter der Jazzgrößen auf. Der britische Gitarrist Fred Frith war mit all seinen verschiedenen Soundspielzeugen angereist, ließ sie über sein Instrument laufen, zog Schnüre durch die Saiten, baute sich so seine ganz eigene Klanglandschaft und zeigte damit deutlich, daß er immer noch zu den Soundpionieren gehört. Noch ein Soundpionier verhexte im Zauberlehrlingkostüm unterdessen das begeisterte Publikum im Kesselhaus. Ex-CAN Bassist Holger Czukay schraubte, drehte, tippte, programmierte und kreierte Rhythmen, Klänge, Frequenzen, begleitet von der stark an Nico erinnernden Stimme seiner Frau U-She, die wegen eines Rippenbruchs nur sitzend singen konnte. Im Palais bot die Überraschung des Abends Frankenstein´s Ballet, eine noch unbekannte deutsch/russische Band, echten Krautrock. Die Petersburger Messer Chups, absolut einzigartig auf ihrem Gebiet, traten mit Hamburger Verstärkung am Theremin auf, und faszinierten mit Klangcollagen, Filmschnipsel, Visuals und eben diesem wunderbar schaurigen Instrument, das ein russischer Soundtüftler in den 20ern des letzten Jahrhunderts erfunden hatte. Der Auftritt von APosition Orchestra, die erst richtig Power brachten, wurde etwas überschattet von der Nachricht, daß bei einem Moskauer Rockkonzert durch ein Selbstmordattentat mehrere Menschen den Tod gefunden hatten. Nach kurzer Überlegung entschied man sich aber, das Festival nicht abzubrechen. Im Palais jazzten Robotobibok aus Polen, was die Anlage hergab und im Kesselhaus folgten die ebenfalls aus Polen stammenden Neurobot mit elektronischen Soundexperimenten und Videosamples. Der Abend war lang, ereignisreich und kräftezehrend, so daß die Berliner the beige oscillator & dj attaché und der Berlin-Georgier NIKAKOI im Kesselhaus leider nicht mehr vor aufnahmebereiten Massen standen, trotzdem hätten ihre exzellenten Soundwerke nicht fehlen dürfen.

Beide Festivaltage zusammenfassend kann man sagen, daß trotz – selbst für deutsche Verhältnisse – exakter Einhaltung des Programmablaufes und preußischer Disziplin den Veranstaltern gelungen war, ihr Hauptanliegen zu realisieren: eine lockere Atmosphäre, die es Publikum, Musikern und Journalisten ermöglichte, miteinander zu kommunizieren und (bislang) für sie fremde Stilrichtungen zu entdecken. Das Festival hat – im Rahmen der Russischen Kulturtage - eine für viele in Deutschland bisher unbekannte Seite russischer Kunst nahegebracht.